Lesedusche

Louise Labé: Das vierzehnte Sonett

Solange meine Augen Tränen geben

SOLANGE meine Augen Tränen geben,
dem nachzuweinen, was mit dir entschwand;
solang in meiner Stimme Widerstand
gegen mein Stöhnen ist, so daß sie eben

noch hörbar wird; solange meine Hand
die schöne Laute von so lieben Dingen
kann singen machen, und sich unverwandt
mein Geist dir zukehrt, um dich zu durchdringen:

so lang hat Sterben für mich keinen Sinn.
Doch wenn ich trocken in den Augen bin,
die Stimme brüchig wird, die Hand nicht mag,

und wenn mein Geist mir hier die Kraft entzieht,
durch ...

aus: Die vierundzwanzig Sonette der Louize Labé, Lyoneserin, 1555, übertragen von Rainer Maria Rilke, Leipzig 1917.

Louise Labé

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Solange meine Augen Tränen geben
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